Arrakoski, Annamari
Weihnachtsgeschichten aus Skandinavien
Buch

Ich konnte die Tannen sehen: eine dunkle Silhouette vor der Nacht, die zum Horizont, zur Stadt hin, heller wurde. Der Zug fuhr einige Kilometer weiter nördlich. Das Tuten der Lokomotive hörte sich an wie das Geschrei wilder Tiere, die über das Feld jagten. Ich konnte stundenlang am Fenster sitzen, so wie jetzt, mit dem offenen Kamin als einziger Lichtquelle hinter mir. Ab und zu stand ich auf und legte Holz nach. Danach setzte ich mich wieder ans Fenster und schaute hinaus auf den nächtlich leuchtenden Schnee. So ging es jeden Abend, bis ich müde wurde, mich ins Bett legte und das Feuer verlöschen ließ. Es war früh Winter geworden. Und der Schnee würde wohl liegen bleiben. Es war zwei Tage vor dem Heiligen Abend. Was mir jedoch kein Grund zur Freude war. Meine Mutter war in diesem Herbst gestorben, und mein Vater und ich hatten die Wohnung in der Stadt aufgegeben und waren hierher gezogen. Es war die Entscheidung meines Vaters gewesen, und ich hatte nichts dagegen gehabt. Er hatte gesagt, er könne es in der Wohnung nicht mehr aushalten, mit all den vielen Erinnerungen vor Augen, jede Stunde dort bedeute für ihn die Hölle. Wir hatten einen Bekannten, der ein Haus im Wald besaß, und das stand derzeit leer; es gab jedoch Strom, Herd und Kühlschrank. Einen Kilometer weiter die Straße hinunter hielt ein Schulbus, und mein Vater versuchte, tagsüber zu Hause zu schreiben: Ich war jedoch sicher, dass er nicht viel zustande brachte. Er verfasste so eine Art Werbetexte, und ich wusste wirklich nicht, wie er sich lobend über Waren äußern sollte, die alle Welt unbedingt kaufen musste, wo doch erst vor zwei Monaten das Schreckliche passiert war. Meine Mutter hatte gelebt wie alle anderen, dann war sie gestorben. Es war von einer Stunde zur anderen passiert, sie war einfach nicht mehr da gewesen. Ich wusste, dass sie es ... selbst getan hatte. Dass sie nicht mehr hatte leben wollen. Aber ich wusste nicht, warum. Ich konnte mir ja denken, dass es mit meinem Vater zu tun hatte, aber der genaue Zusammenhang war mir unklar, und zu fragen traute ich mich natürlich nicht. In der Schule träumte ich meistens vor mich hin, oder ich gab mir Mühe, an gar nichts zu denken. Wir versuchten, gemeinsam zu kochen. Wenn jemand uns gefragt hätte, was wir zuletzt gegessen hatten, hätten wir uns nicht daran erinnern können. Aber niemand fragte. Die anderen begriffen offenbar, dass wir allein sein wollten. In gewisser Hinsicht war das auch schön so. Ab und zu klingelte das Telefon, und mein Vater meldete sich, und ich konnte seine Stimme hören wie ein Radio im Nebenzimmer, in derselben geringen Lautstärke, ohne ein Wort zu verstehen. Nur ein Geräusch, ein gemurmeltes, langes Signal, das nirgendwohin führte. Das Signal entsprach unserem Leben in jener Zeit. Nachts horchte ich oft auf Geräusche, wenn mein Vater in sein Zimmer gegangen war, nachdem er vorher in der Küche getrunken hatte. Ich wusste, dass er wieder trank, aber er versuchte, sich jeden Abend auf zwei Bier zu beschränken oder auf einen Whisky, wenn ich schon schlafen gegangen war. Der Whiskygeruch zog durch das ganze Haus, von der Küche, wo mein Vater saß, durch die geschlossene Tür des Schlafzimmers. Ich sprach nie von "meinem" Zimmer. In diesem Haus gab es nichts, was ich bei meiner Rückkehr in die Stadt hätte mitnehmen wollen. Das Haus lag am Ende des Weges. Dahinter gab es nur noch den Wald. Seit zwei Tagen hatte es heftig geschneit, und der Bauer, der für den Weg zuständig war, setzte zweimal pro Tag seinen Schneepflug ein. Er war am frühen Abend bis zu unserem Haus gefahren. Mein Vater hatte den Wagen umgeparkt, damit der Bauer vor dem Haus eine kleine runde Fläche freiräumen könnte.


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Personen: Arrakoski, Annamari

Leseror. Aufstellung: Weihnachten

Interessenkreis: Weihnachten

Arrakoski, Annamari:
Weihnachtsgeschichten aus Skandinavien / Hrsg.: Annamari Arrakoski. - 1. Aufl. - Reinbek : Rowohlt, 2002. - 255 S.
ISBN 978-3-8052-0746-1

Zugangsnummer: 00001307 - Barcode: 2-2063305-7-00002222-4
Handbücher, Allgemeines, Buch- und Medienkunde, Wissenschaftskunde - Signatur: Weihnachten - Buch